
Jethro Tull – Curious Ruminant
Folk Rock, Progressive Rock
Altbewährt
Seit November 1967 sind die Briten von Jethro Tull ein nicht mehr wegzudenkender Bestandteil der Rockmusikszene.
Mit einem Mix aus Barock, jazzig-progressiven Songstrukturen sowie folkischen Elementen haben sie auch auf die Metalszene einen wesentlichen Einfluss. Gerade die britische Bewegung beruft sich bis heute immer wieder auch auf die selbsternannt lauteste Folk-Band der Welt. Im Mittelpunkt steht das typisch virtuose Querflötenspiel von Ian Anderson – dem Mann, der dieses Instrument in die Rockmusik eingebracht hat.
Einen Karriereabriss über diese aussergewöhnliche Band machen zu wollen, würde heissen, jede ihrer musikalischen Epochen anzuschneiden. Das würde den Rahmen sprengen. Ein Kerndetail sei dennoch erwähnt: Es war nicht beabsichtigt, die nächste grosse Progrock-Kapelle zu werden. Vielmehr verstanden Jethro Tull ihr Referenzwerk «Thick As A Brick» (1972) ursprünglich als Parodiewerk gegenüber dem seinerzeit überbordenden Prog-Hochmut von Bands wie Yes oder Emerson, Lake & Palmer. Aus den Monty Python des Progrock entwickelt sich ein einzigartiges Phänomen …
Ausklang und Neubeginn
Als Gründer, Bandleader, Komponist, Multiinstrumentalist und Sänger hat Ian Anderson in all den Jahren eine ganze Reihe Musiker für sein Projekt um sich geschart. Unter ihnen ist sogar ein gewisser Tony Iommi zu finden, wenn auch nur für eine kurze Zeit. Einzig Gitarrist Martin Barre bleibt bis zur Bandauflösung im Jahr 2012 fest dabei. Ansonsten kommt es zu ständigen Besetzungswechseln, um Andersons anspruchsvollen Kompositionen in allen Belangen mit höchster Professionalität gerecht zu werden.
Hinblickend auf das 50. Jubiläum kommt es 2017 zum Neubeginn. Auf weltweites Touren folgen nach der Corona-Pandemie die Studioalben «The Zealot Gene» (2022) und RökFlöte (2023). Musikalisch greifen Jethro Tull routiniert auf Altbewährtes zurück, ohne zu experimentieren. Der Jüngste an Bord ist das Multitalent Joe Parrish an der Gitarre, der sich inzwischen nach vier Dienstjahren seinem eigenen Projekt Albion (siehe Review) widmet. An seiner Stelle übernimmt Jack Clark die E-Gitarre, seinerzeit zweiter Gitarrist bei Albion.
Neugieriger Grübler
Die Wiederbelebung einer solch renommierten Band wie Jethro Tull es nun mal ist, wird anfangs mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Ist es reine Marketingstrategie? Immerhin springen viele grosse Namen profitabel auf den Revival-Zug auf. Allerdings werden nicht nur Jünger der ersten Stunde eines Besseren belehrt. Ian Anderson versteht sein Handwerk nach wie vor und ist immer noch imstande, mit seinen Kompositionen zu verblüffen. Klar, dass mittlerweile die gewohnt wilde und akzentuiert ironische Kraft in seiner Stimme fehlt. Gut gealtert klingt es aber allemal.
Album #24 ist erneut von Mr. Andersons kontemplativer Lyrik geprägt. Der Titelsong ‹Curious Ruminant› ist gemäss Andersons eigenen Aussagen autobiografisch. Neugieriger Grübler fängt in diesem Fall die Richtung des gesamten Albums im besten Sinn ein. Das ist nicht einfach routiniert oder forciert rezykliertes Material. Da hat sich jemand hingesetzt, ist in sich gegangen und hat seiner Natur gemäss tief Vertrautes hervorgeholt.
Bereits das Eröffnungsstück ‹Puppet And The Puppet Master› lässt nicht nur aufgrund der angenehm warmen Produktion aufhorchen. Mit einem Wink in Richtung der progressiven und folkischen Phase (zwischen 1972 und 1979) kommt der Zuhörer in den Genuss feinster tullischer Kunst.
Nebst abwechslungsreich solider Kost zaubern Jethro Tull mit dem frechen ‹Stygian Hand› sogar einen potenziellen Klassiker aus dem Hut. Ähnliches gilt für das knapp 17-minütige Epos ‹Drink From The Same Well›, das über die gesamte Spiellänge ansprechend und spannend bleibt. Mit jedem Durchlauf manifestiert sich der Aha-Effekt auch bei weiteren Songs, was wiederum für die exzellente Arbeit auf diesem Album spricht.
Das Fanzit zu Jethro Tull – Curious Ruminant
Ist von künstlerischen Spätwerken die Rede, spielt immer ein Stück Nostalgie mit. Das gilt beim neusten Album von Jethro Tull ebenso. «Curious Ruminant» lebt aber definitiv nicht ausschliesslich von der Erinnerung an gute alte Zeiten, auch wenn sich vor allem die stimmlichen Abnützungserscheinungen nicht schönreden lassen. Doch kompositorisch gesprochen, darf man sich nach wie vor staunend hinsetzen und vom Meister lernen. So schnell macht ihm das keiner nach!
«Curious Ruminant» ist ein gelungenes, zeitgemässes Jethro-Tull-Album – für alte Hasen eine Wohltat, für Neulinge der ideale Einstieg.
Die Tracklist – Jethro Tull – Curious Ruminant
- Puppet And The Puppet Master
- Curious Ruminant
- Dunsinane Hill
- The Tipu House
- Savannah of Paddington Green
- Stygian Hand
- Over Jerusalem
- Drink From The Same Well
- Interim Sleep
Das Line-up Jethro Tull
- Ian Anderson – Flutes, Vocals, Acoustic Guitar, Tenor Guitar, Mandolin, Odds and Sods, Bits and Bobs
- David Goodier – Bass
- John O’Hara – Piano, Keyboards, Accordion
- Scott Hammond – Drums
- Jack Clark – Electric Guitar
Guests
- James Duncan – Drums, Cajón, Percussion
- Andrew Giddings – Piano, Keyboards, Accordion
Video Jethro Tull – The Tipu House
