Metalinside.ch - Therion - Schüür Luzern 2024 - Foto pam
Mi, 6. März 2024

Therion – Interview mit Christofer Johnsson

Opera Metal, Symphonic Metal
05.04.2024
Metalinside.ch - Therion - Schüür Luzern 2024 - Foto pam

Wenn die Zeichen auf Abschied stehen …

Am Mittwoch, 6. März 2024 gastieren Therion, die Urgesteine des symphonischen Metals, in der Luzerner Schüür – vielleicht zum letzten Mal auf Schweizer Boden. Ein Muss also, Mastermind Christopher Johnsson noch einmal persönlich zu einer ausgiebigen Plauderei zu treffen.

Schwindende Zuschauerzahlen, ungünstige Arbeitsbedingungen und mühsame Reisen im engen Tourbus sind Argumente, die absolut nachvollziehbar sind (wir berichteten). Doch ist da noch mehr, wie uns der leicht erkältete Christofer in einem sehr offenen und persönlichen Gespräch verrät. Zudem wunderten wir uns, warum mit „La Maritza“ und „Mon amour, mon ami“ gleich zwei Coverversionen in der Setlist Unterschlupf fanden. Wie sieht der im August 1972 geborene Schwede zudem die ganzen Entwicklungen im Rockbusiness? Und was geht ihm durch den Kopf, wenn er auf ein Meer von filmenden Zuschauern blickt? Wie gewohnt war Chris alles andere als kurz angebunden 🙂

Metalinside.ch (Sandro): Hallo Chris, willkommen zurück in der Schweiz!  Wie geht es dir?

Chris: Ich war in den vergangenen Tagen ziemlich erkältet, aber mittlerweile geht es mir wieder etwas besser. Es ist einfach nicht so bequem, im Tourbus zu sitzen und dann mit Kopfschmerzen auf der Bühne zu stehen. Ich habe ein paar Medikamente genommen. Aber zum Glück hatten wir nach dem Konzert in Madrid zwei freie Tage in Frankreich, an denen ich mich etwas erholen konnte.

MI: Ich möchte unser Gespräch mit einer aktuellen Frage beginnen, die du letzten Sonntag in den sozialen Medien aufgeworfen hast: Sollten Therion in Ländern auftreten, die – vereinfacht gesagt – kriegslüstern sind? Wie siehst du das und welche Reaktionen hast du auf diesen Post erhalten?

Chris: Eigentlich war es weniger negativ, als ich erwartet hatte. Ich habe auch viele private Nachrichten von Menschen in der Ukraine erhalten, die an der Front sind und Verwandte in Russland haben. Sie sind sich der komplexen Situation der gegenseitigen Dämonisierung bewusst. Es sind gute Leute, die keinen Krieg wollen. Es ist leicht, das Ganze zu verallgemeinern, aber es gibt auch eine spezifische Beobachtung: Diejenigen, die an der Front kämpfen, sind oft entspannter als diejenigen, die zu Hause sitzen und sich um ihre Lieben sorgen. Eine Freundin aus dem ehemaligen Jugoslawien, genauer gesagt aus Kroatien, hatte Verwandte auf beiden Seiten des damaligen Konflikts, weshalb sie diese Verteufelung eines ganzen Volkes nicht wirklich nachvollziehen konnte.

Wir hatten vor Kurzem auch ein bandinternes Meeting zu diesem Thema. Vorab, ich werde niemanden namentlich nennen, aber ein Mitglied der Gruppe hat an eine Wohltätigkeitsorganisation für die Ukraine gespendet, was zur Folge hat, dass diese Person kein Visum bekommt, weil dort Krieg herrscht. Das bedeutet auch, dass jemand fehlen wird. Und unser ursprünglicher Bassist hatte kurzfristig andere Pläne, also hätten wir ihn ohnehin ersetzen müssen. Und einer weiteren Person war es generell unangenehm, dorthin zu fahren… Wir wären dann wie eine Cover-Band aufgetreten [lacht]. Die Atmosphäre in der Band ist uns wichtiger als alles andere, weshalb wir beschlossen haben, nicht aufzutreten, wenn jemand aus irgendeinem Grund dies nicht möchte. Was mir auch irgendwie entgegenkommt, weil ich sowieso weniger auf Tour sein will.

Die besten Gigs haben wir ohnehin in Südamerika – da macht es am meisten Spass, wir werden anständig bezahlt und auch das Drumherum ist viel entspannter als zum Beispiel hier in Europa. Wir werden generell weniger unterwegs sein, und das wird vor allem Europa betreffen, weil hier alles etwas komplizierter ist, man am wenigsten verdient und auch die kleinsten Shows stattfinden. Das heisst aber nicht, dass die Konzerte deswegen schlecht waren. Alle Auftritte waren super, auch die in Deutschland vor 150 Leuten. Aber für mich ist es so, dass ich einfach nicht mehr so viel mit dem Tourbus unterwegs sein will. Als wir jung waren, Bier getrunken und jede Nacht Iron Maiden aus den Boxen geknallt haben, war das natürlich das Nonplusultra! Du hast mit deinen Kumpels einen gehoben, Heavy Metal aus den 70ern und 80ern gehört und dann einen Gig gespielt.

Aber als ich Vater wurde, verlor das Herumreisen zusehends seinen Reiz. Du bist so oft von deiner Familie getrennt, ich habe den Geburtstag meines Sohnes verpasst. Und du kannst das nicht planen, da jeder Kinder hat, sodass du das terminlich einfach nicht auf die Reihe bekommst. Das ist das eine. Dann habe ich 2007 aufgehört, auf Tour zu trinken … Vielleicht bin ich jetzt auch einfach zu alt und mürrisch oder so. Aber ich glaube wirklich, dass diese Europatournee für die meisten Länder so etwas wie eine Abschiedstour sein wird.

MI: Für die Schweiz hoffentlich nicht.

Chris: Wir werden sehen. Aber eine Woche im Tourbus ist mehr als genug für mich.

MI: Wie reist ihr in Südamerika von einem Ort zum anderen?

Chris: Meistens fliegen wir, weil die Entfernungen ziemlich gross sind. In Mexiko haben wir einen Bus mit herkömmlichen Sitzen, da bist du vielleicht drei bis vier Stunden am Vormittag unterwegs und hast dann ein Hotelzimmer, in das du dich zurückziehen kannst. Das ist noch erträglich. Du fährst bei Tageslicht, geniesst die Landschaft, und wenn du müde bist, kannst du die Sitze zurückklappen und ein Nickerchen machen. Es gibt Klimaanlage, Internet … Na ja, die meisten Leute starren sowieso nur auf ihr Smartphone und vertrödeln ihr Leben in sozialen Netzwerken. Aber vor allem das eigene Hotelzimmer ist ein grosser Bonus – man muss sich nicht mit 15 anderen das Bad teilen. Hier in der Schweiz ist der Standard höher, aber bei unserem letzten Auftritt in Spanien hatten wir vor dem Konzert einen einzigen Raum für die ganze Band, der ungefähr so gross war wie dieser hier [ca. 4 x 4 Meter]. Hier in Luzern haben wir wenigstens zwei davon zur Verfügung.

Ausserdem war es eine Drop-off-Situation, das heisst, man muss alle Sachen mitnehmen und kann nicht zum Tourbus zurück, kann nirgendwo anders hin. Wir waren mitten im Gebäude untergebracht, der Internetempfang war schrecklich, das WLAN funktionierte die meiste Zeit nicht. Man hätte versuchen können, ein Buch zu lesen, aber das ist nicht unbedingt einfach, wenn der Support Act seinen Soundcheck macht, die Leute herumwuseln und schreien… Was kann man also tun, vor allem, wenn man kein Bier trinkt und es kalt ist? Man kann sich nicht aussuchen, was oder wann man isst, also isst man irgendwas. Dann hatte die Toilette nicht einmal ein Schloss, also musste jemand davor stehen und sie bewachen, oder man hängte einen Zettel an die Tür mit dem Wunsch „Bitte klopfen“. Alles war so primitiv. Wenn du 20 bist, stört dich das nicht wirklich, du denkst, wow, wir sind auf Tour, was könnte grösser sein?

Ich bin mir bewusst, dass ich der glücklichste Mensch auf diesem Planeten bin. Selbst wenn ich diesen Job bräuchte, um meine Rechnungen zu bezahlen, würde ich mich nicht beschweren. Im Vergleich dazu, bei Lidl oder wo auch immer an der Kasse zu sitzen… Ich will diesen Leuten gegenüber nicht respektlos sein. Sie machen einen guten Job, und jeder benötigt ein Einkommen, um seine Familie zu ernähren. Aber sie arbeiten, weil sie einen Job brauchen, nicht weil sie ihn lieben. Ich bin so dankbar für alles, was ich bisher erleben durfte. Aber in den letzten Jahren hat sich meine Einstellung grundlegend geändert. Ich bin finanziell unabhängig. Ich muss nie wieder eine Show spielen oder ein Album aufnehmen, um Geld zu verdienen. Ich mache es, weil ich Musik generell liebe, sie zu schreiben und zu veröffentlichen.

Die ersten zwei Wochen auf Tour sind immer ganz gut. Ich treffe mein Team wieder, wir spielen ein paar Konzerte… Aber dann fängt es an, mich zu nerven. Ich stehe gerne auf der Bühne und werde nie müde, live zu spielen. Aber all die Unannehmlichkeiten drumherum, das ständige Warten… Du hast mich am Anfang gefragt, wie viel Zeit wir für dieses Interview haben. Ähm, lass mich kurz überlegen, was ich sonst noch vorhabe… Auf das Essen warten, dann warten, bis wir spielen können. Das sind meine Pläne für den Tag. Insofern ist das eigentlich das Interessanteste, was heute passiert [lacht]. Es ist eine nette Abwechslung, anstatt die Wand anzustarren oder irgendwelchen Blödsinn im Internet zu lesen.

MI: Vor knapp drei Monaten habt ihr den letzten Teil eurer Leviathan-Trilogie veröffentlicht. Wenn ich an unser letztes Gespräch zurückdenke, erinnere ich mich sehr gut daran, wie akribisch du beim Arrangieren deiner Songs auf jedes Detail achtest. Ich denke da nur an „Tuonela“ und den Bridge-Teil mit Taida (statt Lori). Gab es ähnliche Momente bei Leviathan III?

Chris: Auch auf diesem Album haben wir wieder viel mit verschiedenen Stimmen experimentiert, einfach um zu sehen, wie es klingt. Das ist der grosse Vorteil unserer heutigen Arbeitsweise, bei der wir alles separat aufnehmen, sozusagen aus der Ferne. Sonst müssten wir jemanden einfliegen lassen, nur um kurz ein paar Takte einzuspielen. Das wäre ziemlich aufwendig. Früher haben wir das auch so gemacht, aber seit Taida [Nazraić] bei sich zu Hause aufnimmt, ist alles viel einfacher geworden. Lori [Lewis] geht normalerweise in ein professionelles Tonstudio, aber wir mieten es immer gleich für mehrere Aufnahmen. Zuerst bitten wir Taida, einen Song einzusingen, dann Lori, einfach um zu sehen, welche Stimme besser für das Lied geeignet ist. Und wenn keine von beiden passt, suche ich jemand anderen. Das Ganze ist in den letzten Jahren viel experimenteller geworden. Früher hatte ich in Schweden ein gut ausgestattetes Studio mitten im Wald, und wenn jemand zum Aufnehmen kam, musste er einen ganzen Tag anreisen. Heute sagt man einfach: „Nimm das doch mal bei dir zu Hause auf, dann schauen wir weiter“.

MI: Welcher Song der Trilogie liegt dir am meisten am Herzen? Worauf bist du besonders stolz?

Chris: Hmm [überlegt]. Mein Lieblingslied ist wahrscheinlich „Eye Of Algol“. Ich mag besonders den Groove und die Riffs in diesem Stück. Ausserdem spiele ich es auch am liebsten live. Aber stolz… Ich bin nicht besonders stolz auf meine Songs, ich schreibe einfach Lieder, die mir gefallen und von denen ich hoffe, dass auch andere sie mögen werden. Der Unterschied bei „Leviathan“ war, dass wir die Tracks bewusst auf die Vorlieben der Fans zugeschnitten haben. Im Gegensatz zu früher, wo wir hauptsächlich auf uns selbst hörten. Es ist schwer zu sagen, weil die Songs generell sehr unterschiedlich sind. Nimm ein Stück wie „Duende“, das wahrscheinlich das unbeliebteste Lied auf „Leviathan 3“ ist, wenn nicht sogar in der ganzen Trilogie. Aber er hat so viel Charakter und ist künstlerisch sehr wichtig für uns, auch wenn er nie ein Hit wird oder ein Song, nach dem die Leute live schreien. Ich denke immer noch in Alben statt in einzelnen Songs, ich bin immer noch in diesem Konzept der alten Leute gefangen. Du weisst schon, physische Platten kaufen und darüber nachdenken, wie ein Album anfangen, wie die musikalische Reise darin verlaufen und wie es enden sollte. Ich mag „Rule Of Tamag“ auch sehr, insbesondere live. Es ist sehr einfach zu spielen, dabei aber sehr abwechslungsreich, eingängig und es enthält auch einige orientalische Elemente. Und dann gibt es natürlich noch „Tuonela“, das vor allem auf der Bühne so richtig toll zur Entfaltung kommt.

MI: Woher nimmst du die Ideen für den Inhalt, die Lyrics? Liest du viel?

Chris: Früher habe ich viel gelesen, aber heutzutage bin ich so beschäftigt, dass ich gar nicht mehr weiss, wann ich zuletzt bewusst ein Buch in der Hand gehalten habe. In der Regel sind es Themen, die ich noch von früher kenne. Manchmal kommt auch ein Songschreiber mit einer Idee und steuert den Liedtext bei. Aber die Art und Weise, wie Therion-Lyrics in den letzten 30 Jahren geschrieben wurden, bleibt immer noch die gleiche. Ich denke, für diese Art von Musik braucht es etwas Mystisches, Exotisches. Typische Rock’n’Roll-Texte oder Liebeslieder würden nicht funktionieren. Ok, manchmal schon, wie bei „The Siren of the Woods“, der typische Liebeslyrics enthält. Aber du kannst in unseren Liedern nicht darüber singen, wie du dir gerade einen Whiskey einschenkst. Ich denke, das hat mit unserem opernhaften Ansatz zu tun, es muss irgendwie seriöser, intellektueller sein. Aber andererseits haben wir auch Heavy Metal-Songs, eine breite Palette von Stilen.

MI: Welches sind die wichtigsten Zutaten für einen guten Therion – Song?

Chris: Ich glaube nicht, dass man es auf ein paar Zutaten reduzieren kann, weil sie so unterschiedlich sind. Aber was an Therion Songs so typisch ist, ist diese nahtlose Mischung von Stilen, die so fliessend ist, dass viele Leute wahrscheinlich gar nicht darüber nachdenken. Nimm zum Beispiel ein Stück wie „Ayahuasca“. Natürlich basiert es hauptsächlich auf den typischen Heavy-Metal-Riffs der 80er Jahre, aber es gibt auch diese psychedelische Orgel, die von The Doors aus den 60er Jahren inspiriert ist. Wie viele Metal-Bands der 80er hatten so etwas? Nichts davon ist an sich besonders, aber die Mischung ist einzigartig. Und dann gibt es noch diese Gitarrenharmonien, die von Brian May beeinflusst sind und die man im Heavy Metal eher selten findet.

Die einzelnen Elemente sind für sich genommen nichts Spektakuläres, aber wenn man sie mischt, entsteht etwas Einzigartiges, das typisch für Therion ist und das ich bei anderen Bands nicht höre. Diese Art von Kreativität eben, die für die meisten Leute unter dem Radar bleibt. Denn wenn sie an etwas Ausgefallenes denken, dann muss es Zirkusmusik sein, etwas sehr Auffälliges, sehr Proggiges. Wie das Diablo Swing Orchestra, das ich übrigens sehr mag, eine wirklich tolle Truppe, sehr direkt und originell. Aber das ist nicht jedermanns Sache, denn man braucht schon einen gewissen Sinn für musikalischen Humor, um diese Art von Kunst zu schätzen. Bei Therion ist es so, dass zumindest ein Teil davon auch deiner Mutter gefallen könnte.

MI: Wie habt ihr die Setlist für diese Tour zusammengestellt? Ihr habt ja auch zwei Coversongs [vom 2012er Werk „Les Fleurs du Mal“] dabei.

Chris: Nun, ich wollte „La Maritza“ unbedingt live spielen. Allerdings ist dieses Lied in C gestimmt, sodass ich für einzig dieses eine Stück eine andere Gitarre gebraucht hätte. Also dachte ich mir, wenn wir das schon machen, warum nicht einen zweiten Song hinzufügen, der gleich gelagert ist, wie eben „Mon amour, mon ami“? Viele dieser Hits wurden damals in dieser Tonart geschrieben, da man früher primär auf dem Klavier komponiert hat und es da ganz natürlich ist. Aber für eine E-Gitarre ist es durchaus etwas Besonderes. Natürlich kann man mit einer Klampfe so ziemlich alles machen, aber E, A oder D sind da eher üblich. Also mussten wir sie auf C herunter stimmen.

Und wenn man ein neues Album hat, gehört es natürlich dazu, live ein paar Songs daraus einzubauen. Ausserdem waren wir mit Leviathan I aus bekannten Gründen (Corona) nicht auf Tour, und wir mussten unsere Leviathan II-Shows in Europa absagen, da wir unsere Booking-Agentur gefeuert haben. Sie waren eine Katastrophe, und die Tour hätte dies locker widerspiegelt. Also haben wir aktuell drei Alben, die noch nie live in Europa gespielt wurden. Das sind eine Menge Songs. Und dann natürlich die Klassiker, Stücke, die man einfach immer wieder spielen muss. Zudem hatten wir die Idee, hier auch mal „Quetzalcoatl“ zu performen, ein Lied, das gerade in Südamerika live sehr populär ist. Und es funktioniert einwandfrei und zeigt uns, dass man manchmal ein bisschen in Vorurteilen gefangen ist: „Lass uns dies in Lateinamerika spielen und jenes in Europa“. Aber ich glaube, die Leute haben einen sehr ähnlichen Geschmack, egal wo sie leben.

Es sei denn, man macht etwas, das mit dem Nationalstolz eines Landes zu tun hat, wie es zum Beispiel Sabaton perfekt zelebrieren. Einer ihrer Songs handelt ja von einer weiblichen Kriegsheldin [konkret der Serbin Milunka Savić in „Lady Of The Dark“], ein anderer namens „40:1“ ist in Polen sehr populär. Das gibt dem Ganzen natürlich eine zusätzliche Würze. Wenn das Lied ohnehin schon gut ist und dann noch einen Text hat, mit dem sich eine Nation identifizieren kann, dann wird das Ganze natürlich noch spezieller. Und genau aus diesem Grund ist „Quetzalcoatl“ in Mexiko und Mittelamerika sehr populär. Es ist eben stets wichtig, die Setlist zu überdenken und immer wieder andere Stücke auszuprobieren. Einfach auch um zu sehen, welche Songs wirklich ankommen.

„Aeon of Maat“ zum Beispiel funktioniert live nicht so gut, wie wir ursprünglich dachten. Also werden wir es wohl aus der Setlist streichen, wenn wir nach Lateinamerika gehen. Die Musik an sich passt, aber der Cantus ist ein bisschen zu chaotisch. Das Hit-Potenzial dieses Liedes liegt in dieser Art von eingängigen, schwungvollen Gesangslinien [Chris stimmt kurz an]. Aber live funktioniert das leider nicht, es ist einfach zu verworren mit all den verschiedenen Harmonien und so. Und dann hast du natürlich immer wieder Songs aus der Vergangenheit, die auf Spotify zwar nicht durch die Decke gehen, von denen du aber genau weisst, dass sie live immer und überall gut ankommt, wie zum Beispiel „Asgård“. Was auch für „Draconian Trilogy“ gilt, auch wenn es nie wirklich ein Hit war. Aber live ist es eine echte Hausnummer.

MI: Gibt es Songs, die du am liebsten aus dem Programm streichen würdest, die aber von den Fans noch immer verlangt werden?

Chris: Ja, „Son of the Staves“. Es gibt zwei Riffs in dem Song, und das Hauptriff wiederholt sich einfach immer und immer wieder. Dann gibt es eine längere Passage, die nur für eine Gitarre geschrieben ist, also solistisch daherkommt. Ich trinke da währenddessen Wasser, klatsche eineinhalb Minuten verklärt in die Hände und spiele dann das gleiche Riff noch einmal von vorn. Zudem ist es der einzige Track, der in Drop-D geschrieben ist, also muss die Gitarre kurz umgestimmt werden. Das ist nervig, aber es funktioniert live so gut, dass man es einfach spielen muss. Aber wir haben „Son Of The Sun“ rausgeschmissen, da alle dieses Stück so satt hatten. Als ich es im Proberaum vorschlug, dachte ich, dass vielleicht jemand die Fans ins Spiel bringen würde. Aber alle waren sofort dabei. Und ich glaube auch nicht, dass dieser Song jemals wieder live von uns zu hören sein wird. Wir haben ihn einfach zu oft gespielt. Früher war auch „Seven Secrets of the Sphinx“ ein Klassiker, den ich über die Jahre hinweg zu hassen gelernt habe. Er war auf vielen Tourneen das Eröffnungsstück, bis wir ihn aussortiert haben.

MI: Wie fühlst du dich, wenn du auf der Bühne stehst und viele Leute einfach mit ihren Handys vor dir stehen und filmen?

Chris: Ja, dieses Verhalten ist manchmal wirklich befremdend und erinnert mich an eine Folge aus der Serie Black Mirror. Es ist erschreckend, wie sehr wir in einer Welt des ständigen Filmens und Beobachtetwerdens leben. Manchmal frage ich mich, warum die Leute ein Konzert lieber durch das Display ihres Smartphones erleben, anstatt selbst Teil davon zu sein.

Auf der anderen Seite kann es aber auch sehr hilfreich sein, wenn wir uns zum Beispiel nach einem Konzert streiten und jemand sagt: „Hey, du hast es heute total versaut“. „Nein, habe ich nicht.“ „Okay, lass es uns auf YouTube anschauen“ [lacht]. Aber andererseits zerstört diese Kultur des ständigen Filmens natürlich auch den Markt für DVDs oder ähnliches, weil die Leute es gewohnt sind, ziemlich gute Qualität auf ihren Smartphones zu haben. Warum sollten sie also eine DVD oder Blu-ray kaufen, wenn sie ohnehin schon viele Ausschnitte einer Sendung gesehen haben? Es ist definitiv ein Phänomen, das sowohl positive als auch negative Aspekte aufweist.

MI: Zumindest ist die Qualität einer DVD immer noch besser als die eines Smartphone-Films.

Chris: Aber Qualität scheint nicht die oberste Priorität zu haben, wenn man zurückblickt, wie die Leute von CDs auf Streaming umgestiegen sind. Natürlich funktionieren Streaming-Dienste heute sehr gut, sodass der Unterschied nicht mehr so gross ist. Aber als Spotify und Co. anfingen, war die Musik oft viel schlechter. Ich glaube, die Leute entscheiden sich oft für Bequemlichkeit, auch wenn das auf Kosten der Qualität geht. Man denke nur an die Zeiten von VHS und Beta Max. Beta Max war eindeutig besser, aber VHS hatte eine grössere Auswahl an Filmen, die man ausleihen konnte. Also haben sich die meisten aus Trägheit für VHS entschieden, auch wenn das Endergebnis nicht so gut war. Und wahrscheinlich werden die meisten deiner Leser jetzt ins Internet gehen und nach Beta Max und VHS googeln [lacht].

MI: Das kann durchaus sein [lacht]. Du bist jetzt seit rund 36 Jahren im Geschäft. Und wo siehst du aktuell Potenzial zur Verbesserung?

Chris: Ich glaube nicht, dass man viel ändern kann, alles geht seinen Weg. Ich erinnere mich, als die Schallplatte durch die CD ersetzt wurde. Und wir mochten sie nicht, weil eine CD so klein war und sich nicht so mächtig anfühlte, wie wenn man voller Stolz sagen konnte: „Hey, das ist meine Platte“. Aber schliesslich gewöhnte ich mich an die Silberlinge und fing an, sie zu mögen.

In den 90er-Jahren war alles viel einfacher: Du hast einen Gig gespielt, wurdest bezahlt, fuhrst zum nächsten Ort, hast dein nächstes Konzert durchgezogen und wiederum Geld dafür erhalten. Aber jetzt haben wir in Europa in jedem Land eine andere Künstlerabgabe, sodass du fast eine Steuerrecherche machen musst, bevor du auf Tour gehst. Einige Länder wie Frankreich haben es so verbockt, dass ich dort nie wieder einen Fuss auf eine Bühne setzen werde, es sei denn, sie ändern ihre Regeln. Man muss dort befristet angestellt sein, was für den lokalen Promoter eine Menge Papierkram bedeutet. Passkopien müssen im Voraus eingereicht werden, woraufhin eine befristete Arbeitserlaubnis für einen Tag ausgestellt. Es müssen Sozialabgaben und Beiträge für die spätere Rente einbezahlt werden, die man natürlich nie zurückerhalten wird. Das ist sehr viel Arbeit und ich glaube, für die letzte Show, die wir damals in Paris gespielt haben, mussten wir 53% an Steuern und Sozialabgaben abgeben. Plus das, was du zusätzlich in deinem Heimatland entrichten musst, was dann den sagenhaften Wert von rund 75% ergibt, den du insgesamt abdrücken darfst. Da geht es mir irgendwann einfach nur noch ums Prinzip!

Und dann kamen Streaming und YouTube obendrauf hinzu und haben alles noch einmal auf den Kopf gestellt. Zu einem Konzert zu gehen, hat nicht mehr dieses Einzigartige und Besondere wie früher, da jeder auf YouTube schon viel von der Tour gesehen hat, die Setlist kennt und auch weiss, was wir zwischen den Songs sagen werden. Das alles macht es ein bisschen [überlegt lange]…

MI: Vorhersehbar?

Chris: Genau. Und es nimmt dem Ganzen auch ein wenig den Nervenkitzel. Wenn die Leute nicht wissen, was als nächstes kommt, sind sie auch aufgeregter. Doch jetzt schauen sie auf ihr Handy und wissen, was passieren wird. Man kann sich sogar den Song aussuchen, den man am wenigsten mag, und dann auf die Toilette gehen oder sich ein Bier holen. Es ist irgendwie zu strukturiert geworden, nicht mehr dieser wilde Rock’n’Roll wie früher. Aber damals haben wir auch mehr gefeiert, also hat sich das mit der Zeit wohl auch verändert, wenn du so willst [lacht].

Aber wir werden in Zukunft sowieso nicht mehr so viel touren. Somit wird es auch keinen grossen Unterschied mehr machen, was die ganzen Trinkgewohnheiten anbelangt, denke ich. Als wir 2018 auf Tour waren, sind wir viereinhalb Monate unterwegs gewesen. Das ist eine lange Zeit, speziell wenn man nüchtern bleiben möchte. Aber ich habe ohnehin keine Lust mehr, auf Tour zu trinken. Nach ein paar Bierchen schläft es sich zwar sehr gut ein, aber man kommt in keinen befriedigenden Tiefschlaf, sodass man den ganzen Tag über ein bisschen müde ist und beim Auftritt nicht 100 Prozent geben kann. Manche Leute denken vielleicht, dass es nicht so schlimm ist, wenn man ein Lied einfach so runterspielt, aber für mich ist das enorm wichtig. Denn schliesslich kommen eine Menge Leute, die viel Geld dafür bezahlen, um dich spielen zu sehen. Daher möchte ich einfach mein Bestes geben.

MI: In den sozialen Medien hast du auch einen Einblick in deine mittelfristigen Pläne gegeben. Therion wird zumindest vorübergehend in den Hintergrund treten, stattdessen willst du das Luciferian Light Orchestra (LLO) wiederbeleben – und ausserdem ein klassisches 80er-Jahre-Heavy-Metal-Album aufnehmen. Kannst du uns mehr davon verraten?

Chris: Sicher. Das Projekt Luciferian Light Orchestra [kurz: LLO] zielt auf die Atmosphäre der 70er Jahre ab, und ich habe eine Menge Ideen, die ich gerne umsetzen würde. Ursprünglich war das erste Luciferian-Werk eine Zusammenstellung älterer Stücke, und als ich „Church of Carmel“ schrieb, merkte ich, dass es zwar gutes Material war, aber nicht so zu Therion passen mochte. Also entschied ich mich, es zu nehmen und ein separates Album daraus zu machen, nur so zum Spass. Ich hatte nicht erwartet, dass es einem grösseren Publikum gefallen würde, und es war auch kein grossartiger Erfolg, obwohl einige Songs immer noch auf dem Level von Therion gestreamt werden. Und das, ohne jemals beworben worden zu sein. Interessanterweise haben die meisten Zuhörer von Luciferian keine Verbindung zu meiner Hauptband, was darauf hindeutet, dass die Gruppe ihr eigenes, unabhängiges Publikum gefunden hat.

2019 nahm dann das LLO plötzlich Fahrt auf. Da wir bereits intensiv an der Leviathan-Trilogie gearbeitet hatten, war es einfach, zusätzliche Songs für ein Luciferian-Album zu extrahieren. Zusammen mit Thomas Vikström hatten wir so viel Inspiration, dass wir schliesslich genug Material für zwei weitere Scheiben hatten. Das Interessante daran ist, dass sie drei verschiedene Epochen abdecken: Das erste Album ist stark von Jimi Hendrix beeinflusst, also von 1967 bis 1972, sehr frühe 70er und späte 60er. Das zweite hat mehr von den Vibes der mittleren 70er, und das dritte zielt auf die späten 70er Jahre ab.

Ich bezweifle, dass wir danach noch ein weiteres LLO-Album machen können, denn die 80er-Jahre waren eine ganz andere Zeit. Die zweite Scheibe wird vermutlich das grösste Potential haben, weil es eingängiger ist und sich auf die Hits konzentriert. Der dritte Longplayer wird entweder sehr gut oder extrem schlecht aufgenommen werden, da er von den Erwartungen der Fans abweichen könnte. Ähnlich wie bei Therion besteht die Möglichkeit, dass die Vielfalt der Werke zu eher kritischen Reaktionen führen wird. Aber es wird sicherlich eine treue Fangemeinde geben, die das neue Material zu schätzen weiss.

Und für mein kommendes Heavy-Metal-Album haben wir noch keinen Namen festgelegt. Doch ich fühle, dass ich es mir selbst schuldig bin. Schon als ich 11 Jahre alt war, träumte ich davon, Heavy Metal zu spielen… Die Gibson Flying V war immer mein Trauminstrument, ich bewunderte Poster von Bands wie Accept, Judas Priest und Scorpions und malte mir aus, wie es wäre, eines Tages selbst so berühmt zu sein. Jetzt ist dieser Traum Realität geworden, wenn auch auf eine andere Weise. Bands wie Hammerfall leben genau das, wovon ich damals geträumt habe, und jedes Mal, wenn ich eine Gitarre an einen Verstärker anschliesse, spüre ich etwas von diesen 70er und 80er Riffs in mir. Die gesamte Platte habe ich in nur zwei Wochen geschrieben, weil ich meinem jungen Ich gegenüber das Bedürfnis verspürte, ein echtes klassisches Heavy-Metal-Album zu erschaffen.

Ähnlich wie bei Luciferian hege ich keine grossen Erwartungen. Natürlich wäre es toll, eine Million, statt nur 10 Kopien zu verkaufen. Aber wir werden kaum Werbung dafür machen und auch keine Live-Auftritte spielen. Ich möchte es einfach aufnehmen – und wenn wir das tun, wird es auch veröffentlicht. Und es wäre ziemlich dämlich, es nicht mit anderen teilen zu wollen. Doch wenn man diese Art von Metal macht, erfindet man das Rad nicht neu. Du kannst schlichtweg nicht originell sein, wenn du wie klassischer 80er-Jahre-Hit-Metal klingst. Es wird sich am Sound von Legenden wie Accept, Maiden, Saxon oder Judas Priest orientieren, denn das sind die Bands, die mich früher prägten. Ich habe also keine Ambitionen in Bezug auf die Originalität. Ich möchte einfach nur ein grossartiges Metal-Album machen, das so klingt wie aus alten Zeiten. Heutzutage haben alle Bands zu viel Verstärkung auf den Gitarren und setzen zu viel Schnickschnack ein. Alles tönt wie Thrash-Metal-Gitarrensound, wenngleich man Heavy Metal spielt. Selbst klassische Kapellen wie Judas Priest spielen mittlerweile alles in diesem härtesten Stil.

Priest haben damals „Painkiller“ abgeliefert, und das wurde dann quasi zur Blaupause, wie der Sound in Zukunft zu klingen hat. Das ist an und für sich nichts Schlechtes, aber mittlerweile macht es einfach jeder. Ich meine, ich weiss, dass es einige kleine Bands gibt, die retro sind und wie eine Blechdose klingen. Wie in den guten alten Zeiten eben. Aber ich habe noch keine etablierte grosse Band gehört, die das macht. Also ja, ich möchte ein klassisch klingendes Heavy-Metal-Album machen, nicht nur im Hinblick auf die Komposition, sondern auch in Bezug auf den Sound. Ich glaube, das ist der Traum, den ich als Junge hatte. Wenn Leute 50 werden, kaufen sie sich zuweilen plötzlich eine Harley Davidson, einfach weil sie als Kind davon geträumt haben. Und mein Traum ist es nunmal, dieses Heavy-Metal-Album zu machen.

MI: Vor ein paar Jahren hattest du ein Interview mit pam von Metalinside, in dem ihr über deine Arbeit an einer Oper gesprochen habt. Wie sieht es damit aus?

Chris: Das ist korrekt. Vor etwa zwei Jahrzehnten begann ich damit, verwarf die Idee dann aber, als mir klar wurde, dass ich zwar die Höhepunkte, die hitverdächtigen Teile, schreiben konnte, aber nicht die Art von Musik, die erforderlich war, um alles zu verbinden. Dazu war ich zu sehr von der Rockmusik geprägt. Also beschloss ich, mich auf das zu konzentrieren, was ich wirklich gut kann, und eine Therion-Metal-Rock-Oper zu schreiben. So entstand „Beloved Antichrist“. Einige Teile und Passagen der Originaloper habe ich direkt in das Werk integriert. Und auch das Intro und das Ende von „The Blood of Kingu“ stammen aus der Oper und sind nicht in „Beloved Antichrist“ enthalten.

Um erfolgreich zu sein, ist es wichtig zu wissen, wo die eigenen Stärken liegen. Mindestens genauso entscheidend ist es aber, die eigenen Schwächen zu kennen. Sonst vergeudet man viel Zeit mit Dingen, die man nicht gut kann, sei es aus Ego-Gründen oder einfach aus Unkenntnis der eigenen Fähigkeiten. Die Erkenntnis der eigenen Schwächen und somit das Vermeiden von Zeitverschwendung ist ein grosser Vorteil. Ich war immer sehr selbstkritisch und habe entsprechend auf meinen Platten nicht viel Gitarre gespielt. Warum? Wenn ich bereits einen zweiten Gitarristen habe, der doppelt so gut ist, warum sollte ich dann mit meinem Gedudel die Hälfte der Scheibe füllen? Ich spiele nur hier und da ein bisschen, damit mein Name als Gitarrist auf dem Cover steht.

Nach „Deggial“ habe ich meine Beteiligung deutlich reduziert. Ich erkannte, dass ich als Songschreiber und Co-Produzent, damals wie heute als Produzent, viel stärker bin. Wenn jemand anders Gitarre spielt und ich zuhöre, kann ich Dinge wahrnehmen, die er nicht bemerkt, und so sein Spiel verbessern. Es ist wichtig, das zu tun, was dem Team zugutekommt, und sich nicht aufzuplustern. Diese Formation hier ist wirklich bemerkenswert. Niemand hat Ego-Probleme. Im Gespräch mit Lead-Sängern einer Band triffst du normalerweise auf grosse Egos. Lead-Gitarristen haben oft den Wunsch, lange Soli zu spielen. Doch bei uns ist das anders.

Thomas Vikström kann ein Lied schreiben und es mir zuschicken. Ich höre es mir an und sage: „Hey, das ist ein toller Song, Thomas, aber du wirst ihn nicht singen.“ Ich habe sogar Mats Levén vorgeschlagen, den Mann, den er ersetzt hat, da ich dachte, dass seine Stimme perfekt dafür wäre. Du kannst dir vorstellen, was so etwas in sozialen Medien an üblen Diskussionen auslöst, aber Thomas war sofort einverstanden. Unser Ziel ist es, das bestmögliche Album zu produzieren und die Songs live optimal zu präsentieren. Es gibt keine Prestige- oder Ego-Probleme, die Therion beeinflussen könnten.

Bei der Auswahl der Lieder geht es nicht darum, möglichst viele eigene Stücke auf die Platte zu packen. Ich erinnere mich an etwas, das mir mal jemand erzählt hat – ich glaube, es war Snowy [Shaw], als er bei Mercyful Fate war. Sie hatten im Voraus beschlossen, dass vier Songs von Hank Sherman drauf sein sollten, vier von King Diamond und zwei von Michael Denner. Diese Entscheidung hatten sie bereits getroffen, bevor sie mit ihrer Arbeit begannen. Aber was ist, wenn Michael Denner drei Hammersongs schreibt? Dann müssten sie einen der besten weglassen und einen anderen nehmen. Ich kann das einfach nicht nachvollziehen. Es ist ihre Band, ihre Regeln, und das geht mich alles nichts an. Aber für mich ist das seltsam. Mir wäre es egal, wenn jemand anderes die gesamte Scheibe geschrieben hätte und keines meiner Stücke drauf wäre, solange ich diese Songs besser finde und das Endprodukt davon profitiert.

Verschiedene Bands gehen unterschiedlich damit um. Oft ist es jedoch so, dass derjenige, der die Musik schreibt, auch derjenige ist, der sich um die meisten Dinge kümmert. Viele Bandleader teilen diese Erfahrung, wenn wir miteinander sprechen. Früher waren wir es immer, die den Van fuhren und die Mittel für die Demobänder aufbrachten. Wenn alle sagten, dass wir kein Geld hatten, waren wir es, die es sich leihen oder es sonst irgendwie auftreiben mussten. Vieles hing einzig an uns.

In einer Band übernehmen in der Regel einige Wenige die unternehmerischen Aufgaben, während andere einfach mitmachen. Es ist oft komplizierter, als viele denken. Man sieht nur einen Bruchteil dessen, was wir tun, und kennt nicht den Aufwand hinter den Kulissen. Da ich auch für den kaufmännischen Teil verantwortlich bin, muss ich für ein Sommerfestival etwa 10 Flüge buchen, um die Bandmitglieder erst einmal nach Malta zu bringen, wo ich lebe. Nach den Proben organisiere ich den Transport der gesamten Band zum Festivalort und anschliessend zurück in ihre Heimatländer. Danach kümmere ich mich allein um die Rückführung des Equipments nach Malta. Es gibt viel Arbeit, die unbemerkt bleibt. Und dann beschwerten sich manche in der Vergangenheit, wenn wir an einem Tag mal etwas weniger verdienten oder uns ein Hotelzimmer teilen mussten.

Ich stamme aus einer Zeit, in der wir oft im Van oder wie Hunde auf dem Boden geschlafen haben, in Räumen wie diesem hier. Manchmal übernachteten wir in Schlafsäcken bei Fans zu Hause. Natürlich ziehe ich ein Einzelzimmer für mehr Privatsphäre vor, aber ein Tag im Doppelzimmer bringt mich nicht um. Leute, die in eine bereits erfolgreiche Band einsteigen, haben diese Erfahrung nie gemacht. Sie mussten nie den Felsen den Berg hinauf rollen, sodass ich ihnen das auch nicht wirklich vorwerfen kann. Es ist enorm schwierig, als Band erfolgreich zu werden. Sowohl Fans als auch Mitglieder etablierter Gruppen neigen oft dazu zu glauben, dass einem vieles geschenkt wird, nur weil es gerade gut läuft. Doch das ist schlicht nicht der Fall. Letztlich ist den Menschen gleichgültig, wo du gewesen bist; sie interessieren sich nur dafür, was du als Nächstes machst.

MI: Letzte Frage für heute, da du ja schon wiederholt zu Nachtessen gerufen wurdest: Gibt es etwas an dir, das die Leute nicht erwarten würden? Vielleicht ein ungewöhnliches Hobby oder eine Marotte?

Chris: Ein interessantes Hobby von mir ist das militärische Zielschiessen. Meine Waffensammlung umfasst eine der Kalaschnikow ähnliche Zastava, drei verschiedene Glocks, einen Revolver, ein Scharfschützengewehr, ein modifiziertes Jagdgewehr und eine halbautomatische Schrotflinte. Ich trainiere Zielschiessen, Tontaubenschiessen und taktisches Schiessen, zusammen mit ehemaligen britischen Soldaten. Es ist sehr aufregend, denn ich bin definitiv der Neuling in der Gruppe. Sie haben seit ihrem 10. Lebensjahr Erfahrung, während ich erst mit 49 Jahren angefangen habe. Das bedeutet, dass ich wirklich hart arbeiten muss. Wenn ich mal Vorletzter werde, bin ich stolz wie Oskar [lacht]. Das Coole daran ist auch, dass es niemanden interessiert, wenn ich in Mexiko vor einem ausverkauften Stadion mit 11’000 Leuten gespielt habe. Ich bin einfach Chris. „Oh, du hast da nen Gig gemacht? Okay, gut. Lass uns schiessen gehen.“ Daraus ist ein grosses Hobby geworden. Ich stelle sogar meine eigene Munition her und recycle die Patronenhülsen, weil ich viel schiesse und es so billiger wird.

Ausserdem halte ich zwei Esel, Bianca und Italia. Als Ausländer darf ich kein Ackerland kaufen, also bin ich als Heavy-Metal-Gitarrist nun offiziell auch als Landwirt registriert. Es sind gerettete Tiere und sie sind wirklich tolle Begleiter. Oft werden Esel als stur angesehen, was jedoch nicht stimmt. Ähnlich wie Hunde und Katzen haben sie ihren eigenen Willen. Es ist möglich, einer Katze genauso viele Tricks beizubringen wie einem Hund, aber ihre Beweggründe sind unterschiedlich. Esel sind sogar intelligenter als Pferde, und das sage ich als jemand, der mit Pferden aufgewachsen ist. Sie sind äusserst kommunikativ und drücken ihre Gedanken klar aus.

Ein Beispiel aus unserem Stall: Einer unserer Esel wuchs auf einer Kuhfarm auf, wo automatische Wassernäpfe üblich waren. Sie meidet es, aus grossen Eimern auf dem Boden zu trinken, da sie aus Afrika stammt und instinktiv befürchtet, dort könnte ein Krokodil auftauchen, ähnlich wie manche Menschen Angst vor Schlangen und Spinnen haben, selbst wenn sie nicht giftig sind. Sie bevorzugt es, wenn das Wasser in einer Schale serviert wird, dann entspannt sie sich und trinkt. Wenn eine Schüssel in der Nähe ist, schaut sie zuerst das Wasserloch an, geht dann zur Schüssel, stösst sie mit ihrer Nase an und schaut dich an, als würde sie sagen wollen: „Füttere mich bitte aus dieser Schale!“ Es sind diese kleinen Dinge.

Zudem hatten wir am Boden des Stalls eine Umrandung angebracht, um die Einstreu dort zu halten. Einerseits bevorzugen die Esel weichere Flächen, um bequem schlafen zu können. Andererseits sollen sie nicht überall auf den Spänen stehen, sondern einen festen Untergrund haben. Deshalb wurde das nur in einem Teil des Stalls gemacht. Einer der Esel mochte diesen Rand aber gar nicht. Sie schien zu denken: „Was soll das?“ Wahrscheinlich empfand sie es als unangenehm, wenn sie sich wälzte. Jedes Mal, wenn wir kamen, stand sie neben der Umrandung und signalisierte uns durch Kopfbewegungen, dass wir die Teile entfernen sollten. Also engagierten wir jemanden, der das erledigte. Danach war sie sichtlich glücklich – und ging schnurstracks zur Stalltür um uns zu signalisieren: „Die auch noch, dann kann ich rein und raus, wann immer ich will“ [lacht]. Was wir natürlich nicht taten.

Es ist ein weit verbreitetes Vorurteil, dass Tiere nicht besonders schlau seien. Sie essen, schlafen und erledigen ihr Geschäft.  Aber das bedeutet nicht, dass sie keine Denkfähigkeit besitzen. Vielleicht haben sie keine Ahnung von Atomphysik oder ähnlichem. Ihre Dialoge mögen simpel sein, doch sie denken über viele Dinge nach.

Sie sind zu einem festen Bestandteil unserer Familie geworden. Als wir den ersten Esel gerettet haben, habe ich meine Garage in einen Stall umgebaut. Ursprünglich wollte ich dort eine Rockkneipe einrichten, quasi als Hobby, einen Ort, an dem nur meine Lieblingsmusik gespielt wird und nur das Bier ausgeschenkt wird, das ich gerne trinke. Wenn jemand damit nicht einverstanden ist, kann er gehen, denn ich bin nicht auf das Geld angewiesen. Diesen Traum habe ich aufgegeben, um einen Stall zu bauen [lacht]. Es hat mich wirklich selbst überrascht. Hätte mir jemand ein paar Monate zuvor gesagt, dass ich das tun würde, hätte ich es nicht geglaubt und ihn ausgelacht. Man weiss wirklich nie, wohin das Leben einen führt.

Zwischen Bianca und mir besteht ein sehr enges Band. Sie hat mehrere, zum Teil traumatische Besitzerwechsel hinter sich. Deshalb ist sie sehr anhänglich und hat Vertrauensprobleme. Es ist typisch für Esel, sich an ein bestimmtes Individuum zu binden, sei es ein Mensch oder ein Tier. Italia hat sich für meine Freundin entschieden.

Wenn ich auf Tour bin, leidet Bianca wirklich. Einmal haben wir den Fehler gemacht, via FaceTime miteinander zu telefonieren. Bianca war sehr daran interessiert, mich zu sehen und meine Stimme zu hören. Als das Gespräch zu Ende war, wurde sie sehr deprimiert. Wochenlang starrte sie die Wand an und weigerte sich sogar zu essen. Ein Tierarzt musste eingreifen, damit sie nicht… Wir tauchen jetzt in ein recht nerdiges Thema ein: Grasfressende Tiere müssen ständig fressen, da sie kontinuierlich Magensäure produzieren. Ohne Nahrungsaufnahme kann dies zu ernsthaften Problemen führen, ja sogar zum Tod. Ein Tag ohne Futter kann bereits Schwierigkeiten verursachen, während zwei Tage eine Zwangsernährung erforderlich machen können. Wie gesagt, meine Freundin musste damals den Tierarzt aufbieten, da Bianca mich so stark vermisste.

Es ist eine Ironie des Schicksals: Ich habe Allergien, aber ich liebe Tiere. Ich reagiere überempfindlich auf Hunde und Katzen, jedoch nicht auf Esel. Ich kann sie streicheln und Zeit mit ihnen verbringen, ohne allergische Reaktionen zu bekommen. Das ist ein Segen für jemanden wie mich, der Tiere liebt. Wir gehen jeden Tag eine Stunde mit ihnen spazieren, ähnlich wie mit Hunden. Esel sind verschmust und zutraulich, sogar noch mehr als Pferde. Es ist eine grosse Verantwortung, vergleichbar mit der Betreuung eines Kindes mit besonderen Bedürfnissen. Selbst ein Wochenendausflug muss gut geplant sein. Gleichzeitig haben Esel im Vergleich zu Pferden eine bemerkenswert lange Lebensdauer von bis zu 50 Jahren. Daher ist die Entscheidung, Esel zu halten, eine lebenslange Verpflichtung. Ihr Zuhause sollte stabil sein, da ein Umzug für sie sehr anstrengend wäre. Ich kann verstehen, wenn dies für einige deiner Leser ungewöhnlich klingen mag, aber für meine Familie und mich ist es eine sinnvolle und erfüllende Lebensweise.

Ich weiss nicht, wie viel von meinem Geschwafel am Ende in deinem Interview landen wird [das meiste!]. Aber einer der Hauptgründe, warum ich weniger gerne auf Tour gehen werde, ist der Wunsch, mehr Zeit zu Hause mit meiner Familie zu verbringen – und dazu gehören auch unsere Esel. Die Verantwortung für sie liegt mir am Herzen. Wenn ich unterwegs bin, kann meine Freundin nicht allein mit ihnen spazieren gehen, weil wir zu zweit sein müssen. Die Musik wird auch weiterhin ein wichtiger Bestandteil meines Alltags zu Hause sein. Aber das mit dem Touren… Wenn wir mit Therion auf Achse sind, komme ich beim Schiessen schnell aus der Übung. Dann bin ich stets wieder der Schlechteste in der Gruppe. Und so weit möchte ich es nun wirklich nicht kommen lassen [lacht].

MI: Wenn das kein Killerargument ist! Ganz herzlichen Dank, Christofer, für diese sehr spannenden und persönlichen Einblicke! Und guten Appetit, auch wenn das Essen nun wohl kalt sein dürfte.

Chris grinst und begleitet mich über den Bühnenbereich hinaus. Es wäre in der Tat sehr schade, diesen aussergewöhnlichen Künstler inskünftig nicht mehr auf helvetischem Boden willkommen heissen zu dürfen!

Video Therion – Eye Of Algol

05.04.2024
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