
Giant – Stand And Deliver
Classic Rock, Hardrock, Rock
Stabübergabe
Giant gehören für heutige Verhältnisse nicht gerade zu den geläufigen Hardrockgrössen. Dabei hat die Band aus dem kommerziellen Country-Zentrum Nashville ein kleines Stück Rockgeschichte geschrieben.
«Last Of The Runaways» (1989) und «Time To Burn» (1992) sind nicht nur unsterbliche Klassiker, sondern gelten heute als zwei der repräsentativsten Alben des AOR (Adult Oriented Rock). Dass Giant seinerzeit nicht zu einer kommerziellen Grösse geworden sind, ist der Modeströmung des Grunge zuzuschreiben. Die Band um die beiden Brüder Dann und David Huff löst sich 1997 auf.
Dann Huff findet seinen Platz als Studiogitarrist und Produzent und wird innert kürzester Zeit zu einem äusserst gefragten Mann in der Countryszene. Sein Bruder David und Bassist Mike Brignardello versuchen indes, Giant wieder zum Leben zu erwecken. Es folgt «III» (2001) als reines Studiowerk ohne Promotion. Ähnliches gilt für «Promise Land» (2010), wobei Dann hier aufgrund seines vollen Terminkalenders nur noch als Studiogitarrist fungiert und den Gesang anderen überlässt. Das Schicksal scheint gezeichnet, doch dann …
Das fehlende Puzzleteil
Als die schwedische Band Perfect Plan eine Coverversion des Giant-Hits ‹Stay› veröffentlichen, fügen sich endlich alle Puzzleteile zusammen: Mit deren Sänger Kent Hilli wird der richtige Mann gefunden. Dann Huff kann also ruhigen Gewissens den Leadschlüssel übergeben. Mit seinem Beitrag als Leadgitarrist auf der Single ‹Never Die Young› kommt es zur segnenden Stabübergabe einer neuen Giant-Ära.
Das langerwartete fünfte Album «Shifting Time» (2022) wird zu einem überraschenden Knüller. Zwar ist der typische und wiedererkennbare Giant-Sound kaum mehr herauszuhören, doch der zeitgemässe Touch steht dem Album sehr gut. Überdies verwandelt Kent Hilli Songs wie ‹It’s Not Over› oder ‹I Walk Alone› mit seinem Gesang in reine Hühnerhautmomente. Das klingt nach einer vielversprechenden Zukunft.
Die richtige Formel
Abermals wird es nach einem grossartigen Album vorerst still um den Riesen, kaum Promo und keine Konzerte weit und breit. Erst drei Jahre später gibt’s aus dem scheinbaren Nichts wieder ein Lebenszeichen. Mit ‹Hold The Night› erscheint die erste Single aus dem zugleich angekündigten neuen Album «Stand And Deliver». Das neue Material versetzt den geneigten Hörer unmittelbar in die Zeit der ersten beiden Alben zurück – was für ein Teaser! Auch die zweite Single ‹A Night To Remember› haut in dieselbe Kerbe und schraubt damit die Erwartungen gehörig nach oben.
Das feine Händchen von Gitarrist Jimmy Westerlund ist unüberhörbar. Die Schuhe von Dann Huff sind zwar enorm, aber der finnische Songwriter und Produzent bewegt sich darin hervorragend. Seine Gitarrensoli sind pointiert und mit dem richtigen Giant-Feeling veredelt. Die Abmischung teilt er sich mit Tausendsassa Alessandro Del Vecchio, der zudem für gewohnt ausgezeichnete Keyboardarbeit verantwortlich ist. Da kann eigentlich nichts mehr schief gehen. Oder vielleicht doch?
Im Schatten der Klassiker
Hört man sich nach diesen beiden Top-Songs das gesamte Album mit entsprechenden Erwartungen an, kommt erst mal die Ernüchterung. Ist das alles? Irgendwie stellt sich der Fan auf die Fortsetzung von «Last Of The Runaways» ein und kriegt stattdessen «nur» ein solides Album.
Erst nach mehreren Durchläufen entfaltet sich die wahre Grösse von «Stand And Deliver». Zwar wirkt es durch vereinzelte Songs streckenweise als Hommage an die Klassiker, setzt sich dann aber trotzdem als etwas komplett Eigenes durch. Dieses Verständnis ist der Schlüssel, um den Zugang zu echten Song-Juwelen zu bekommen: ‹I Will Believe›, das herzzerreissende ‹It Ain’t Over Till It’s Over› oder das verträumte ‹Time To Call It Love› hätten sogar den Titanic-Eisberg zum Schmelzen gebracht – das ist AOR-Kunst im allerhöchsten Grad!
Über die gesamte Spiellänge gesehen, fehlt einzelnen Songs (vor allem ‹Paradise Found› und dem Titeltrack) der letzte Kick, um sich auf dem hohen Niveau der wirklich herausragenden Hits zu bewegen. Von Füllern ist man dennoch weit entfernt, dafür ist das Material wiederum zu gut.
Das Fanzit zu Giant – Stand And Deliver
Giant ohne Dann Huff – sind das überhaupt noch Giant? Die Antwort ist ein eindeutiges Ja! Trotzdem wäre es äusserst vermessen «Stand And Deliver» mit den ersten beiden Giant-Alben vergleichen zu wollen. Das wäre nicht fair.
«Stand And Deliver» ist ein beeindruckendes, wunderschönes Album geworden, das den auf «Shifting Time» eingeschlagenen Weg fortsetzt. Giant gehören damit auch in erneuertem Gewand zur Speerspitze des AOR, oder wie man heute geläufiger sagt: Melodic Rock.
Die Tracklist – Giant – Stand And Deliver
- It’s Not Right
- A Night To Remember
- Hold The Night
- I Will Believe
- Beggars Can’t Be Choosers
- It Ain’t Over Till It’s Over
- Stand And Deliver
- Time To Call It Love
- Holdin‘ On For Dear Life
- Paradise Found
- Pleasure Dome
Das Line-up Giant
- Kent Hilli – Lead Vocals
- Jimmy Westerlund – Lead Guitar
- Mike Brignardello – Bass
- David Huff – Drums
Guest
- Alessandro Del Vecchio – Keyboards
Video Giant – Hold The Night
