Brutus – Live in Brussels
Alternative Rock, Progressive Metal, Progressive Rock
Feierliche Melancholie – Live aus der Konserve
Nach längeren Tourneen, an denen Brutus einige neue begeisterte Hörer für sich gewinnen konnten, veröffentlichen sie das zweite Livealbum ihrer Karriere. «Live in Brussels» gibt ein Konzert wieder, das rund ein Jahr vor Erscheinung in der namensgebenden Stadt Brüssel stattfand.
Wer sind Brutus?
«Wir spielen an so vielen Metalfestivals. Warum, wissen wir selber nicht», meint Peter Mulder in einem Interview nach dem Auftritt seiner Band am Baden in Blut Festival 2024 (Review hier). Wahrlich, in welcher Stilrichtung Brutus spielen, lässt sich nicht so leicht erklären. Nebst der Bezeichnung «Progressiv» für Musik, die sich nicht so recht einordnen lässt, listet Wikipedia die obskure Bezeichnung «Math Rock» auf: komplizierte Rhythmen und viel Theorie für profilierungssüchtige Musiker, die aus Kunst Status machen wollen. Doch diese Bezeichnung passt ganz und gar nicht zum Klang von Brutus. Möglicherweise komplex, aber keineswegs abgehoben. Trotz ihres voluminösen Sounds sind sie im Grunde auf ein Minimum an Instrumentierung beschränkt: Gitarre, Bass, Schlagzeug und punktuell live mittels MIDI-Fusspedal eingespielte, einzelne, gedehnte, tiefe Synth-Orgelklänge. Mehr braucht es nicht. Dafür sorgen, nebst dem musikalischen Können, mehrere hochwertige Amps für Gitarre und Bass und eine, an die 80er erinnernde, nicht an Hall sparende Abmischung, die gerade auf «Live in Brussels» sehr zur Geltung kommt.
Brutus vollbringen es, sich selbst bei den konservativsten Angehörigen einer selbsternannten «Metal-Elite» Respekt zu erspielen. Dies bewiesen sie etwa 2024, als die Band diverse Metalfestivals besuchte, darunter grosse Namen wie Hellfest oder Wacken. Ungeachtet dessen, dass sie ihre Musik gar nicht diesem Oberbegriff unterordnet.
So mancher Death-Metal-Kutte-Träger stand bereits völlig ergriffen von der feierlichen Melancholie, die den Liedern innewohnt, vor der Bühne.
Gehemmte Frontfrau?
Bei Instrumentalisten mit Mikrofon, insbesondere singenden Schlagzeugern, wird oft angenommen, dass zwischen Spiel und Gesang ein Kompromiss eingegangen werden muss. Nicht selten ist diese Annahme nicht unbegründet. Nicht bei Stefanie Mannaert, der Drummerin und gleichzeitig auch Sängerin. Ihre Belegung beider Plätze im Line-up beeindruckt in einer einwandfreien Symbiose. Lyrisch kommen die Lieder mit wenig Worten aus. Ihre voluminöse Stimme dient vielmehr als Instrument als dem Erzählen von Geschichten.
Dennoch ist Mannaert an den Konzerten visuell eher unscheinbar. Versteckt hinter den Cymbals ihres Schlagzeugs sitzt sie stets am rechten Rand der Bühne, fernab dem Mittelpunkt, an den sie eigentlich gehört.
Wendet sie das Wort an das Publikum, meist ist es nicht viel mehr als «Thank you», wirkt sie geradezu schüchtern, als würde es ihr Unbehagen bereiten in der Öffentlichkeit auftreten zu müssen.
Doch sobald Mulder (Bassist und MIDI-Fusspedalen-Bediener) und Stijn Vanhoegaerden, (Gitarrist) das Intro eines Liedes anspielen, scheint diese Unsicherheit verflogen zu sein. Selbstbewusst wendet sich Stefanie zum Mikrofon und lässt engelhaften Gesang erklingen, verprügelt ihre Trommeln, wie es Chad Smith von den Red Hot Chili Peppers nicht besser könnte, wechselt vom Engelsgesang zur Melancholie oder brüllt die ersten Shouts. Nicht selten gleich alles zusammen. Im Refrain wird die Kombination zwischen Gesang, Gitarre, Bass und Schlagzeug bis zur Ekstase gesteigert. Gegen Ende des Songs flacht die Wut, die nebst der Melancholie vielen Kompositionen innewohnt, wieder ab.
Das klingt auf Papier trotz einiger Variationen nach repetitiven Songstrukturen, was der Band jedoch nicht gerecht wird. Eher wohnt dem Aufbau eines typischen Brutus-Songs, insbesondere live, ein gewisser Wiedererkennungswert inne.
Wahrlich, Wiederholungen liegen ihnen fern. Wer im Abstand von ungefähr einem halben Jahr verschiedenen Auftritten beiwohnen darf, merkt schnell: Kaum eine Darbietung eines Songs klingt identisch wie die am Konzert davor, geschweige denn wie die Studioversion.
Schon wieder ein Livealbum?
Nach den ersten zwei Alben Burst (2017) und Nest (2019) wagte man 2020 mit «Live in Ghent» den ersten Konzertmitschnitt zu veröffentlichen, trotz eines eingeschränkten Repertoires an Songs, was zu vielen Dubletten von bereits veröffentlichten Songs, nun in einer Live-Version, führte. Doch bereits da bewiesen und archivierten Brutus, dass Bühne und Tonkabine sich nicht identisch sein müssen.
Mit der neuesten Veröffentlichung «Live in Brussels» liegt das nächste Wagnis auf dem Plattenteller: Zwischen den beiden Livemitschnitten liegt lediglich die Veröffentlichung des Albums «Unison Life» plus ein paar Singles, die sich an einer Hand abzählen lassen. Unweigerlich enthält das Album von einigen Liedern die dritte offizielle Veröffentlichung. Diese vermögen es erneut, sich von den zuvor bereits in die Welt getragenen zu unterscheiden. Denn Bühnen können sich genauso unterscheiden, wie sich eine Tonkabine von einer solchen unterscheidet.
Ein Konzert aus der Stereoanlage
«Live in Brussels» klingt, als hätte man ein Konzert, ausserhalb einer Konzerthalle in den Ohren. Zwischen Livemix und nachträglichem Mastering wurde ein sinnvoller Mittelweg gefunden. So klingt das Album nicht überproduziert, übersteigt dennoch die Qualität eines Bootlegs. Die Stereoabmischung lässt den Hörer die Venue, in der der Auftritt aufgezeichnet wurde, erahnen, dennoch sind die Instrumente deutlich hörbar und voneinander abzugrenzen.
Einzig das, für einen erfolgreichen Auftritt unentbehrliche Publikum kommt im Klangbild insgesamt eher zu kurz. Generell ist es erfreulich, wenn dieses nicht, wie auf anderen Livemitschnitten, überpräsent ist, doch gerade an den Stellen an denen es rhythmisch mitklatscht, hätte es ein paar Dezibel mehr verdient.
Dies trifft bedauerlicherweise anfangs ebenfalls auf den Gesang zu, was nach wenigen Tracks jedoch bereinigt wird, wie dem an so manchen Konzerten der Fall ist. Siehe dazu diverse auf Metalinside.ch veröffentlichte Konzert Reviews.
Von der Halle auf die Platte
Die Spielzeit des Albums entspricht etwa den zu erwartenden neunzig Minuten einer Headlinershow. Bei dieser Ähnlichkeit zu einem regulären Auftritt bleibt es nicht. Wurden bei «Live in Ghent» noch die Tracks so bearbeitet, dass sie losgelöst voneinander funktionieren, behielt man auf «Live in Brussels» die nahtlosen Übergänge bei, welche meist aus aushallenden Akkorden und gedehnten Orgelklängen bestehen. Nur sehr wenig wurde gekürzt durch Fade-outs oder andere Stilmittel der Postproduktion. Das macht dieses Livealbum nicht nur länger als das vorherige, es erweitert ebenfalls das virtuelle «Konzerterlebnis».
Auch sonst nimmt man sich Zeit. Trotzdem das Tempo einiger Lieder im Vergleich zur Albumvorlage gesteigert wurde, dauert ein einzelnes im Schnitt über eine Minute länger als auf «Live in Ghent». Dies, da Ausschnitte neuinterpretiert, wiederholt werden und da man sich Zeit lässt für Instrumentalteile und Stille. Trotz verzerrter Gitarre und Bass erhalten einige Tracks durch Hall sowie Echo von Instrumenten und Gesang geprägte, ruhige Abschnitte, die der emotionalen Steigerung dienen, ansonsten aber vor allem aus nachklingenden Tönen bestehen. Am deutlichsten zur Geltung kommt dies beim Finale. Die letzten Minuten von «Sugar Dragon» werden einem langen, sich an genannten Mitteln bedienenden Outro geschenkt.
Zugegeben, gerade ab Band, ohne die zwischenmenschlichen Gefühle, die man an Konzerten mit anderen Besuchern teilt, können einige Tracks insbesondere für neue Hörer von Brutus durchaus als übermässig in die Länge gezogen erscheinen.
Das Fanzit zu Brutus – Live in Brussels
«Live in Brussels» vereint, was Brutus ausmacht: Emotionen und Können, garniert mit dem gewissen Etwas, womit sich die Band nicht nur in mein Gedächtnis, sondern auch in mein Herz brannte. Es enthält das, was einen Auftritt der Band unvergesslich macht. Natürlich kann man infrage stellen, ob die Zeit bereits wieder reif ist für ein weiteres Livealbum. Doch für mich ist sie das. Selbst grauenhafte Handyvideos, die ich von der Performance einzelner Songs, hauptsächlich «War», gemacht habe, schaue ich mir immer und immer wieder an. Liveversionen dieser Songs nun anständig abgemischt serviert zu bekommen, freut mich entsprechend umso mehr.
Der Auftritt in Brüssel wurde ebenfalls als Bewegtbild festgehalten. Der Film wurde bereits veröffentlicht, ist aber (fast) nur als Stream erhältlich, eine Tatsache, die immer mehr Kulturgüter betrifft. Ich möchte den Genuss von Kunst nicht vom guten Willen gesichtsloser Konzerne abhängig machen. Ich will etwas besitzen, im besten Fall physisch, um sicherzustellen, dass favorisierte Inhalte nicht gelöscht oder verändert werden können.
Eine Möglichkeit, das Konzertvideo von «Live in Brussels» physisch zu erwerben, gäbe es dennoch. Doch leider besitze ich keinen VHS-Player.
Die Tracklist – Brutus – Live in Brussels
- Miles Away (Live in Brussels)
- Brave (Live in Brussels)
- Liar (Live in Brussels)
- Justice De Julia II (Live in Brussels)
- Storm (Live in Brussels)
- War (Live in Brussels)
- Victoria (Live in Brussels)
- What Have We Done (Live in Brussels)
- Chainlife (Live in Brussels)
- Spac (Live in Brussels)
- Fire (Live in Brussels)
- Dust (Live in Brussels)
- Paradise (Live in Brussels)
- Desert Rain (Live in Brussels)
- All Along (Live in Brussels)
- Sugar Dragon (Live in Brussels)
Das Line-up – Brutus
- Stefanie Mannaerts – Drums, Vocals
- Peter Mulders – Bass
- Stijn Vanhoegaerden – Guitar
Video Brutus – War (Live in Brussels)


