Lee Aaron - Radio On (Cover Artwork)
Fr, 23. Juli 2021

Lee Aaron – Radio On!

AOR, Rock
20.07.2021
Lee Aaron - Radio On (Cover Artwork)

Eine reife Leistung – mit einem „Aber“…

Die Metal-Queen ist zurück! „Radio On!“ heisst die neuste Scheibe der mehrfach mit Platin gekrönten kanadischen Sängerin Lee Aaron. Ob sie mit den zwölf darauf enthaltenen Tracks den Spirit der legendären FM-Sender, die einst den Äther beherrschten, wieder auferstehen lassen kann? Wir haben für euch reingehört.

Nein, so wirklich glücklich war Lee Aaron (die bürgerlich übrigens auf den Namen Karen Lynn Greening hört) mit der Rolle des Rock-Vamps eigentlich nie – viel mehr hat sie sich stets gegen das von aussen aufgedrängte Image des Sexsymbols gewehrt und versucht, die starke Rolle der Frau zu thematisieren. Doch noch immer hängt ihr dieser Nimbus aus früheren Tagen nach. Vielleicht gerade deshalb erwähnt sie auf ihrer Website explizit (und ziemlich prominent gleich zu Beginn ihrer Bio), dass sie ihre Zeit nun grösstenteils mit „Gitarre spielen, Wäsche waschen und die Kinder von der Schule abholen“ verbringt. Speziell!

Nicht minder bemerkenswert ist die Aussage, dass die neue Langrille zusammen mit der Band an einem einzigen Wochenende – quasi in einer Art Klausur – geschrieben worden sei. Wo sich andere schwer damit tun, gerade in diesen doch aussergewöhnlichen Zeiten und in einer so kurzen Zeitspanne ein ganzes Album aus dem Hut zu zaubern, gibt diese Combo so richtig Gas. Lee und ihre Bandkollegen – die bereits auf den letzten beiden Alben eine Einheit bildeten – harmonieren auf der neusten Langrille zudem hörbar gut, was das gesamte Werk über spürbar ist.

Radio an!

Was gibt „Radio On!“ nun her? Lapidar gesprochen lässt sich „Radio On!“, ähnlich einer Schallplatte, in zwei Hälften aufsplitten Da wäre zum einen die rockige, mit einigen musikalischen Perlen gesegnete Seite A, welche in „Vampin'“ mit einem groovigen, fetten Riff sowie knackigen Drumbeats durchstartet und erst gegen Ende hin etwas an Fahrt rausnimmt. Ein zeitgemässer Rocker ohne viel Firlefanz, der gut ins Ohr geht und Lust auf mehr macht. Stimmlich offenbart sich einem zudem bereits hier, dass Lee nichts von ihrer Klasse eingebüsst hat: Die Gesangslinien schallen mal ruhig, mal zuckersüss, aber meisten rotzfrech aus den Lautsprechern.

Mit „Soul Breaker“ folgt eine eher ruhig klingende Mid-Temponummer mit einem bluesigen, radiotauglichen Vibe. Die dadurch erzeugte Stimmung, gepaart mit dem kräftigen, eingängigen Refrain ist irgendwie charakteristisch für das, was man von Lee Aaron anno 2021 erwarten darf – Signature-Sound verdächtig.

Das anschliessende, mit einem treibenden Beat und diesem irgendwie typischen 80er-Jahre-Groove behaftete „Cmon“ kommt als trendiger, eingängiger Pop-Rocksong um die Ecke. Ein Track, der bei den Fans vielleicht nicht durchs Band weg gleich gut ankommen wird (speziell, wenn man die etwas härtere Seite der Combo bevorzugt), als mögliche Hitsingle aber einiges an Potential in die Waagschale wirft.

Munter weiter geht es mit „Mama Don’t Remember“, einem bluesbasierter, eher einfach gestrickten, aber nicht minder mitreissenden Rocker, bei dem sich insbesondere die Rhythmussektion um Schlagzeuger John Cody und Bassist Dave Reimer Bestnoten abholt.

Eitler Sonnenschein…

„Radio On“, die ersten Singleauskopplung aus dem gleichnamigen Album, ist ein eingängiges, poppiges Stück im Mid-Tempobereich, welche einen netten Country-Einschlag aufweist und irgendwie zum Cruisen einlädt. Den Abschluss der ersten Hälfte bildet mit „Soho Craw“ der wohl härteste Track der Scheibe, welcher mit seiner unverblümt geradlinigen Art echten Rock’N’Roll-Flair in die traute Stube weht. Gitarre und Gesang schenken sich hier nichts.

Das war’s dann auch schon von der Vorderseite. Ab hier wird es – wie soll ich sagen – etwas kompliziert. Wandelten die Tracks bis hierhin auf eher rockigen Pfaden, so weist Side B mit gleich zweieinhalb einfühlsameren Stücken eine hohe Balladendichte auf. Da die restlichen drei schnelleren Songs sich zudem eher im Mittelmass tummeln (wohlwollend formuliert), ist die Diskrepanz zu Seite A umso grösser, der Spannungsbogen flacht deutlich ab – und das, obschon es sich bei den langsameren Kompositionen um echte Kracher handelt!

Los geht es mit „Devil’s Gold“, einem stimmungsvollen, intimen, ja schon fast nackten Lied über Lügen, Unwahrheiten und Verlust, welches – wenig verwunderlich – deutliche Blueseinflüsse geltend macht. Das geschickt umgesetzte Gitarrenarrangement verstärkt die vorhaltende traurige Stimmung nur noch mehr, und die in der letzten Minute gesteigerte Taktfolge transportiert das im Text angedeutete Gefühl von Wut und Angst beinahe körperlich spürbar.

… und ein paar Wolken

Von den drei zügigeren Stücken der B-Seite ist „Russian Doll“ mit seinem Swingeinfluss wohl noch der interessanteste Track, fällt im Vergleich zu den vorangegangenen Up-Tempo-Nummern jedoch deutlich ab. Auch „Great Big Love“ mit seinem langsamen, schwülen Beat ist da keine Offenbarung: Der Refrain hebt sich viel zu wenig von der Strophe ab, so dass das Ganze etwas träge, schwerfällig vor sich hinköchelt.

Ganz anders „Wasted“: Langsam, emotional, gefühlvoll und verletzlich – mit Akustikgitarrenbegleitung beginnend – mutiert der Song in der Mitte – nach „my heart is not right“ – mit einem schweren Riff zu einer vollelektrischen, wütend-verzweifelten Rock-Nummer – ganz geil gemacht. Inhaltlich handelt der Track vom Kampf eines Familienmitgliedes mit Alkoholismus – zunächst aus der Sicht des Kindes, dann aus der Perspektive des Vaters, in seinem verzweifelten Kampf gegen die Sucht, den eisernen Griff, welchen der Alkohol auf einen ausüben kann. Lee schöpft hier gesanglich aus dem Vollen und verleiht dem Stück dieses fiese Gänsehautfeeling, das man so schnell nicht mehr abschütteln kann.

„Had Me At Hello“ ist – ja, leider – einfach nur langweilig; insbesondere, wenn man den Twin-Song „Great Big Love“ von zuvor noch nicht ganz aus den Gehörgängen spülen konnte. Mit dem wunderschönen, von sanften Klavierklängen unterlegten „Twenty One“ zieht die Combo dann nochmals alle Register ihres Könnens. Diese Ode an die unbeschwerten Jugendjahre lädt zum Träumen ein und ist stimmlich die wohl beste und einfühlsamste Performance. Sie bildet einen mehr als würdigen Abschluss eines Albums, das über weite Strecken zu überzeugen weiss, mit zwei, drei ziemlichen Totalausfällen sowie einer etwas – sagen wir mal – eigenwilligen Aufteilung der Songs aber unnötig Punkte liegen lässt.

Aber alles in allem ….

Zu den Themen, die „Radio On!“ inhaltlich behandelt, gehören: Sterblichkeit („Radio On“ „Twenty One“), Materialismus („Devil’s Gold“), Selbstermächtigung („Vampin'“), Sucht („Wasted“), Liebe („Cmon“ „Had Me At Hello“) und unsere Gesellschaft („Soul Breaker“ „Russian Doll“).

Auf „Radio On!“ erleben wir eine gereifte Lee Aaron, die sich nicht um Modetrends schert oder sich zwanghaft neu zu erfinden versucht. Lee ist Lee, selbstbewusst, frisch, in sich geerdet, aber keineswegs ein Aufguss ihrer Selbst. Aber vielleicht ist es gerade diese Reife – beziehungsweise diese fehlende Leichtigkeit, ja Naivität, welche uns allen mit fortschreitendem Alter etwas abhandenkommt, die ich auf diesem Album ein bisschen vermisse. Zu viel Kopf, zu wenig Bauch – von dem her war es vielleicht von Vorteil, dass die Scheibe an nur einem Wochenende entstanden ist und so spontane Entscheidungen nicht übermässig glattgebügelt wurden.

Das Fanzit Lee Aaron – Radio On!

„Radio On!“ präsentiert sich über weite Strecken als ein feines, gefühlvolles und irgendwie intimes Album, zuweilen auch als echter Ohrenschmeichler, das sich frei von Ecken und Kanten zu entfalten weiss und – wenig überraschen – von Miss Aarons nach wie vor umwerfenden Stimme, die so rein gar nichts von der Brillanz der alten Tage eingebüsst hat, getragen wird.

Ohne die drei unter der Rubrik „Eher nein“ einzuordnenden Titel auf der B-Seite hätte es „Radio On!“ zu höheren Ehren gereicht, so gibt es von mir wohlverdiente acht Punkte. Nichtsdestotrotz: Wer guten, sauber komponierten und gesanglich stellenweise überragenden AOR mag, dürfte hier goldrichtig liegen. Radio an für Lee Aaron? Aber sicher doch!

Anspieltipps: Soulbreaker, C’mon, Radio On, Devil’s Gold, Twenty One

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Trackliste Lee Aaron – Radio On!

  1. Vampin‘
  2. Soul Breaker
  3. Cmon
  4. Mama Don’t Remember
  5. Radio On
  6. Soho Crawl
  7. Devil’s Gold
  8. Russian Doll
  9. Great Big Love
  10. Wasted
  11. Had Me at Hello
  12. Twenty One

Line Up – Lee Aaron

  • Lee Aaron – Gesang
  • Sean Kelly – Gitarre
  • Dave Reimer – Bass
  • John Cody – Schlagzeug

 

Video Lee Aaron – Vampin‘

 

Video Lee Aaron – Twenty One


Album Review Bewertung

Autor Bewertung: 8/10



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