Coroner – Dissonance Theory
Avantgarde Metal, Progressive Thrash MetalJenseits der Grenzen
«Der Sound von Coroner bewegte sich schon immer an den Grenzen», heisst es auf der Band-Website. Obwohl ursprünglich dem Thrash Metal zugeordnet, lässt sich das Trio aus Zürich in kein wirkliches Schema einordnen.
Zu fliessend sind die Genre-Grenzen, die gefühlt bei jedem weiteren Album neu definiert werden. In einer minuziös kalkulierten Struktur kombiniert mit technischer Präzision in Hochgeschwindigkeit entstehen avantgardistische Kompositionen, denen vor allem drei Elemente zugrunde liegen: Der filigrane Ausdruck der Klassik, die Komplexität des Jazz und der kompromisslose Mechanismus des Industrial Metal.
Um das neue, lang erwartete Werk «Dissonance Theory» einordnen und verstehen zu können, ist es vonnöten, kurz ein paar Jahre zurückzureisen …
Verkannte Genies
Bereits das Debut «R.I.P.» (1987) hebt sich von der damals aufkeimenden Thrash-Welle ab. Die Schweizer Combo klingt weder nach den US-amerikanischen Big 4 noch nach den teutonischen Vertretern (Destruction, Sodom, Kreator). Ähnlich wie die Landsmänner von Celtic Frost, mit denen sie anfänglich als Roadies unterwegs sind, beschreiten Coroner ihren ganz eigenen musikalischen Weg und werden dabei umgehend zur Kultband. Ihrer Zeit um Jahre voraus, geniessen sie spätestens durch ihre Nachfolgewerke «Punishment For Decadence» (1988) und «No More Color» (1990) Bewunderung und höchsten Respekt unter Szenegrössen. Dabei werden sie unbewusst zu Wegbereitern des Death Metal und sind später mitverantwortlich für den Erfolg von Eluveitie.
Dennoch löst sich die Band nach der Kompilation «The Unknown» (1996) auf. Ganz überraschend kommt das allerdings nicht. Während sich mit dem vierten Studioalbum «Mental Vortex» (1991) die Kritiker gegenseitig mit Lobeshymnen überbieten, bleiben Coroner für die grosse Masse unzugänglich. Zu komplex, vertrackt, fortgeschritten – ja, vielleicht auch zu intellektuell. Eine Nischenband für Feinschmecker zu sein, wird zur Krux. Es kommt zu Spannungen innerhalb der Band und das letzte Studioalbum droht zur produktionstechnischen Katastrophe zu werden. Unter den technisch hohen Ansprüchen kommen unterschiedliche Auffassungen zutage, was schliesslich auch zum Bruch mit dem Label führt. Nichtsdestotrotz werden mit «Grin» (1993) abermals neue (oder vielleicht besser: progressive) Massstäbe gesetzt. Bleibt es ein letztes Meisterwerk der Band?
Reunion
Coroner waren zwar nie Everybody’s Darling, aber aus der Metalszene wegzudenken sind sie zu keinem Augenblick, selbst nach ihrer Auflösung nicht. Musikalisch bleibt Gitarrist Tommy Vetterli der Aktivste. Erst begleitet er Stephan Eicher auf einer ausgiebigen Tour, packt danach bei Kreator an und landet schliesslich für Eluveitie hinter den Reglern als Produzent. Doch insgeheim brennt ihm etwas anderes unter den Nägeln.
Nicht nur die Nachfrage von diversen Veranstaltern für ein Coroner-Comeback auf der Bühne nimmt zu. Durch die Welt von sozialen Medien wird das Ausmass des Coroner-Kults erst so richtig bewusst: Covers en Masse und der gefühlt einheitliche Schrei nach einer Reunion. Tommy kontaktiert seine beiden Gefährten und es kommt vorerst zur Zusammenkunft im Proberaum. Ein Jahr später, also 15 Jahre nach ihrer Auflösung, wird im April 2011 die erste Comebackshow im Les Docks (Lausanne) gefeiert. Es folgen weitere Auftritte in Clubs und an Festivals. Die Resonanz ist einheitlich: Coroner sind zurück, besser denn je!
Neues Album nach 32 Jahren
Die Reunion hat klargemacht, wie weit unter ihrem Wert Coroner verkauft wurden. Dass das Trio der Welt beweisen möchte, was es musikalisch noch auf dem Kasten hat, liegt auf der Hand. Lange wird alles durch weitere Konzerte verschwiegen, doch am 15. August 2025 wird die Katze aus dem Sack gelassen: Nach 32 Jahren melden sich die Herren mit der Single ‹Renewal› aus dem langersehnt angekündigten Neuling «Dissonance Theory» zurück. Einzig für Marquis Marky, Drummer und künstlerischer Kopf der Band, endet die Reise mit den Reunionkonzerten. Seinen Platz nimmt Diego Rapacchietti ein und lanciert damit endgültig eine neue Coroner-Ära.
‹Renewal› ist vorerst mal ein faustdicker Schlag auf die Zwölf, den man in dieser Heftigkeit kaum erwartet hätte. Auch die zweite Single ‹Symmetry› haut in dieselbe Kerbe, bleibt aber lediglich ein heisser Teaser für das gesamte Album. Ein Album, das als Gesamtwerk erfasst werden will – ein Abenteuer, das beim ersten Hörgenuss überfordert und gleichzeitig überwältigt. Bereits der Opener ‹Consequence› donnert nach kurzem Intro dermassen wuchtig und mit technischer Präzision durch die Lautsprecher, dass es einen nur noch wegpustet. Da werden die Vorzüge der wirklich brutal fetten Produktion ausgekostet.
Dass wuchtig brachialer Sound nicht primär mit hoher Geschwindigkeit gleichzusetzen ist, bekommt man umgehend in ‹Sacrificial Lamb› zu spüren. Der schleppend schwere Rhythmus wird durch die auf den Punkt gehaltene und kontrollierte Gitarrenarbeit von Tommy Vetterli und Ron Broders raue Stimme peitschend vorangetrieben. Sich darauf vorzubereiten ist zwecklos, man wird einfach hineingeschleudert. Sich darauf einzulassen ist folglich nicht nur von Vorteil, sondern der Schlüssel zu einem aussergewöhnlichen Erlebnis.
Meister ihres Fachs
Unter diesen Voraussetzungen wird ‹Crisium Bound› zu einem echten Kracher, der nach einer fulminanten ersten Hälfte mit einem hypnotischen Mittelteil nachhallt und schliesslich in den bekannten Reisser ‹Symmetry› überleitet. Dabei fällt auf, wie alles trotz aller Komplexität kalkuliert ineinanderfliesst und zu einem Ganzen wird. Das mag nach so langer Absenz und für heutige Standards nicht mehr ganz so avantgardistisch klingen. Immerhin sind in der Zwischenzeit sehr viele Schüler in ihre Fussstapfen getreten. Dennoch bleiben sie darin die Meister ihres Fachs. ‹The Law› steht dafür als Paradebeispiel.
Aber damit ist noch lange nicht alles Pulver verschossen. ‹Transparent Eye› fesselt mit unwiderstehlichem Groove und walzt spätestens im packenden Mittelteil alles in Grund und Boden. ‹Trinity› nimmt zwar wieder etwas Fahrt auf, lässt sich aber immer wieder gekonnt groovig einholen, bevor das Finale den Knoten endgültig löst: Die Abreissbirne ‹Renewal› (‹Prolonging› gehört als fliessender Übergang dazu) nimmt als Abschlusstrack den goldrichtigen Platz ein und vervollständigt nach 47 Minuten ein absolut denkwürdiges Album.
Das Fanzit zu Coroner – Dissonance Theory
Nach 32 Jahren ein Comeback-Album zu veröffentlichen, ist eine enorme Gratwanderung. Streicht man obendrauf den Nostalgiefaktor, ist es sogar ein hohes Risiko. Coroner haben sich der Herausforderung gestellt und liefern genau das, was sie seit dem ersten Album ausmacht: Einzigartigkeit.
«Dissonance Theory» präsentiert drei hochkarätige Musiker, die zum wiederholten Mal auf jegliche Trends pfeifen und ein weiteres Unikat ihrem Backkatalog hinzufügen. Prädikat: Meisterklasse!
Die Tracklist – Coroner – Dissonance Theory
- Oxymoron
- Consequence
- Sacrificial Lamb
- Crisium Bound
- Symmetry
- The Law
- Transparent Eye
- Trinity
- Renewal
- Prolonging
Das Line-up Coroner
- Ron Broder (Ron Royce) – Bass, Vocals
- Tommy Vetterli (Tommy T. Baron) – Guitars
- Diego Rapacchietti – Drums